Anora
Sean Baker, USA, 2024o
Anora, a young sex worker from Brooklyn, gets her chance at a Cinderella story when she meets and impulsively marries the son of an oligarch. Once the news reaches Russia, her fairytale is threatened as the parents set out for New York to get the marriage annulled.
Anora, dieses Jahr mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet, ist das Beste, das dem seit der Corona-Krise geschwächten amerikanischen Independent-Kino passieren konnte. Der 50-jährige Jungspund Sean Baker (The Florida Project) liefert einen verführerischen, unbändigen und lebensfrohen Film nach dem Vorbild seiner Titelfigur, einer junge Sexarbeiterin aus Brooklyn, die durch die Begegnung mit dem Sohn eines russischen Oligarchen aus ihrer Welt gerissen wird und bereit ist, die Unbeschwertheit zu geniessen, von der sie ihre prekäre wirtschaftliche Lage bisher ferngehalten hat. Endlose Partys, Abstecher nach Coney Island und improvisierte Ausflüge nach Las Vegas sind Anoras neuer Alltag an der Seite ihres hitzigen Kunden. In der sogenannten Stadt der Sünde, wo Sex mit Geld und Drogen konkurriert, macht der junge Russe ihr einen Heiratsantrag. Für sie ist das der Jackpot, als seine Eltern davon erfahren, setzen sie alles daran, diese Ehe mit dem Beigeschmack der Schande schnellstmöglich zu annullieren. In der zweiten Hälfte des Films wird das ohnehin schon hohe Tempo noch gesteigert: Als der Multimillionärssprössling die Flucht ergreift, verfolgt Anora ihn zusammen mit den Handlangern der Oligarchen-Familie - ein ebenso plumpes wie ungeschicktes Trio: Drama trifft auf Komödie, Lachen mischt sich mit Weinen, am Ende ist man gerührt, begeistert, hat Sterne in den Augen und Bilder im Kopf, und das ist wunderbar. In einer Zeit, in der manche gern glauben, dass die Scheidung zwischen Kunst und Unterhaltung vollzogen sei, erinnert uns Sean Baker daran, dass es im Kino um «motion» und «emotion» geht, um Verfolgungsjagden und Liebe, um Schläge und Zärtlichkeit. Erstere verteilt der Film wie warme Brötchen, von Zweiterem überbordet er.
Émilien Gür